Schon zu Fallerslebens Lebzeiten war klar: Wer zu viel oder politisch Unkonformes äußert, der muss mit Verfolgung, Verfämung und Bestrafung rechnen. In Zeiten von Unsicherheit, Angst und Umbrüchen suchen die Mächtigen nach dem Ersticken derer, die an Ihrer Haut kratzen.
In den Zeiten des Inklusiven Gedankens müssen wir alle lernen, miteinander fair und wohlwollend umzugehen. Wir haben viele Meinungen und Ansichten, wir sind aber eine Menschheit. Deshalb sollten wir in der Lage sein, jeden anderen sprechen und denken zu lassen, was er oder sie möchte, ohne das zu verdammen, zu kommentieren oder zu bewerten.
Wer seine Meinung zurückhalten muss oder wem gesagt wird, er müsse sich für die eigene Meinung schämen, der wird seiner Rechte auf Meinungsfreiheit (Artikel 5) und auf Inklusion beraubt. Denn wer Inklusion nur auf Menschen mit (Schwer-)Behinderung anwendet, scheint den Gedanken der Inklusion nicht wirklich zu verstehen. In einer gesunden, wohlwollenden und respektvollen Gesellschaft (Art.1 GG) müssen wir es ertragen können, dass jede/r frei sagen darf, was er/sie denkt und fühlt.
Im Studium habe ich erlebt, wie schnell Meinungen Gestalt annehmen. Heute ist es chic, sich schnell eine Meinung zu bilden und diese unverholen – besonders online – zu verbreiten. Ohne Rücksicht auf Fakten und ohne dem Gegenüber wirklich zuzuhören, werden Grenzen des prosperen Miteinanders über Bord geworfen und Stellung bezogen.
Viele werden bezeichnet als “links” oder “rechts” – mit der Rechtfertigung, man dürfe auf dem Gegenüber herumhacken, schließlich gehört der/die andere ja zum gegnerischen Lager an. Und das gilt es zu verunglimpfen, zu übertrumpfen und zu zerstören. Ein Dialog wird von vornherein ausgeschlossen. Das ist schade. Wenn ich mich zurückerinnere, dann gerne an die Diskussionen mit Abraham, der sehr häufig konträrer Meinung zu meiner eigenen war. Ich habe mit ihm intensive und hitzig argumentiert, aber ich bin ihm bis heute dankbar, dass er auf den Punkt brachte: Wir sind sehr unterschiedlicher Meinung, aber als Menschen respektieren wir uns und mögen den jeweils Anderen. Wir kamen miteinander klar, denn es gab Zeiten, wo Raum für Meinungsaustausch war, und welche, wo z.B. gearbeitet werden musste und wir sehr gut kooperierten. Die Zeit zwischen den Gesprächen war gut und sinnvoll, denn anstatt ihn zu verfluchen, nuzte ich die Argumente meines gegenübers, um meine eigenen Meinungen und Motivationen zu hinterfragen und zu prüfen. Ich bin dankbar für diese Zeit. Es war nie BlaBla, sondern ich konnte mich selbst weiterentwickeln, meine Meinung festigen oder erweitern. Die Welt des Gegenübers erschloss sich mir. – Mit wenigen Menschen konnte ich so diskutieren wie mit ihm, denn die wenigsten Zeitgenossen sind in der Lage, Abstand zur eigenen Befindlichkeit und Selbstbezogenheit herzustellen.
Eines ist für mich klar: Wer brüllt, droht und beleidigt, hat nicht recht. Damit meine ich Menschen sowohl den Medienpunk als auch die Menschen, die mit aufgehängten Politikern durch die Straßen ziehen. Beides überschreitet Grenzen. Der eine darf das mit öffentlicher Billigung. Beim anderen wird recherchiert, wie die Person heißt und wo sie arbeitet, um für deren Entlassung zu sorgen. Beide Handlungen sind aus meiner Sicht falsch. Den Einen für seine gelebten Agressionen zu tätscheln (Braver Wauwau!) und den anderen zu Armut zu verdammen, ist gleichermaßen brutaler Mißbrauch und stellt die Frage nach der inneren Reife der Menschen, die das tun. Haben sich unsere “Denker und Lenker” so wenig im Griff?
Dafür, dass angeblich bei den meisten Bürgern dieses Landes Einigkeit im Denken herrscht, verwundert es mich, wie erzürnt und boshaft weiter gestritten und sich angefaucht wird. Wenn eine Meinung bei 80% der Bevölkerung gleich ist, dann müsste doch seelige Ruhe herrschen. Das lebendige Weihnachtswunder! Kein Streit, keine Denunziation, nur Friede, Freude und Seeligkeit!
Gedanken sind nur frei, wenn niemand sie einsperren muss. Ich war erschrocken und besorgt, von einer Gymnasiastin aus Dresden zu hören, wie sie über PEGIDA-Anhänger sagte, das seien alles Verbrecher und Volksverhetzer. Sie machen Deutschland kaputt. Ich fragte, wie sie zu dem Gedanken kommt. Kennt sie denn PEGIDA-Anhänger? Nein, erklärte sie, die Lehrer am Gymnasium sagen das den Kindern. Jeder, der einen PEGIDA-Anhänger Zuhause hat, lebt mit einem bösen Menschen unter einem Dach. Ich war bestürzt, dass gerade in Sachsen, wo ich etliche Menschen, die Opfer der DDR-Gehirnwäsche und -verfolgung waren, jetzt wieder auf diese Art Meinungsmache bei Kindern betrieben wird. Kinder sollen Freude am Leben haben und sich mit der eigenen Lebenswelt befassen. Das Mädchen fühlte sich nun beauftragt, die eigene Familie nach bösen Menschen auszuleuchten. Das spaltet die Familie, denn ihr Onkel geht in Dresden mit auf Montagsdemonstrationen. Dem Kind waren die Bilder aus den Medien von grimmigen, unzufriedenen Menschen gezeigt worden und gesagt, das seien hasserfüllte Bestien. Das Kind steckt in einem großen Dilemma, denn der Onkel, den sie eigentlich gerne hat, ist nun ein Verbrecher. Aus Angst vor den Lehrern leugnet sie in der Schule den Onkel.
Anstatt Meinungen zu tolerieren, führen wir schmutzige Grabenkämpfe (siehe US-Wahl) und ziehen auch noch die Schwachen und Beeinflussbaren mit hinein. Das ist gelebter Wahnsinn 2016. Ich kann kaum noch Nachrichten oder Polittalkshows ansehen. Mir ekelt davor, wie dort miteinander umgegangen wird. Während sich zwei Lager angehen, interessiert ohnehin niemanden, was der Einzelne denkt. Ich meide Gespräche und wünsche mir nicht sehnlicher, als dass die Menscher ihr Hirn an- und ihr Herz aufschalten. Möge jede/r sagen und denken dürfen, was er/sie will. Frohe Weihnachten.